Gesamtkunstwerk Musical? Zwischen Fortschrittsglauben und (nach-) postmodernen Potenzialen

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Christian Wegerich

Abstract

Unter dem Lemma „Musical“ lässt sich in der Wikipedia lesen, dass es sich bei diesem Genre des Musiktheaters schlechthin um ein „Gesamtkunstwerk“ handele. Diese Bezeichnung erscheint auf den ersten Blick mehr als fragwürdig. Der Begriff des Gesamtkunstwerks, wie ihn vor allem Richard Wagner etabliert hat, zielte nicht nur formell auf eine Verbindung unterschiedlicher Kunstformen, sondern darüber hinaus auf eine Synthese von Kunstwerk und Leben. Doch sind begriffliche Konfusionen dieser Art auch immer symptomatisch und haben Verweischarakter, den man ignorieren oder aufgreifen kann. So scheint auch die Beschreibung des Musicals als „Gesamtkunstwerk“ zeichenhaft in einer Zeit, in der das Utopisch-revolutionäre, wie es die klassische Avantgarde noch eingefordert hat, postmoderner Polyperspektivität gewichen ist.


Diese Entwicklung betrifft nicht nur Formen des Musiktheaters, zeigt sich hier jedoch in besonderer Weise, da die Bühne (z.B. im Gegensatz zu Tonträgern/Streams) als konstitutives Ereignis-Medium, performativ im „Hier und Jetzt“, zwischen sowie durch Menschen wirkt. Damit wird sie zum direkten Verhandlungsort ästhetischen Materials, das gesellschaftliche Normen, Sehnsüchte und Ideologien spiegelt. Was zeigen uns aktuelle deutsche Musical-Produktionen in dieser Hinsicht und können diese überhaupt mit einem Materialbegriff, wie ihn Adorno musiktheoretisch geprägt hat, analysiert werden? Kann vom Musical unter den heutigen Vorzeichen als einem „Gesamtkunstwerk“ gesprochen werden, befreit von avantgardistischem Pathos und kultischer Aura? Handelt es sich hierbei um „All inclusive“-Angebote im doppelten Sinne: Von allem etwas, für alle – und liegt gerade darin, jenseits vergangener Fortschritts-Aporien, ein progressives Potenzial?

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Autor/innen-Biografie

Christian Wegerich

Christian Wegerich hat neben beruflichen Stationen im Musik- und Medienbetrieb Kulturwissenschaften, Betriebswirtschaftslehre, Medienkultur und Medienwirtschaft in Lüneburg und Bayreuth studiert (M.A.). Schwerpunkte bildeten hierbei interdisziplinäre Studien an der Schnittstelle zwischen Mediengeschichte, Ästhetik, Philosophie und Kommunikation. (Stand 2023)